01.09.2013   Powered by Emotion

TSCHAKKA

Es muss wohl im Jahr 1997 gewesen sein, als ich mir eines Morgens sehr heftig auf die Unterlippe biss.

Zu einem äusserst ungünstigen Zeitpunkt im Bewegungsablauf des Käsebrötchen-zum-Munde-Führens hatte mich ein Schrei getroffen. Infolge der Erschütterung schlugen meine Zähne nicht in die Brotkante sondern in die Unterlippe ein. Der Schrei kam aus dem Radio. Er war keine Entgleisung eines verzweifelten Moderator, sondern eine Art Jubelschrei, der die fünfundvierzig minütige morgendliche Ratgebersendung bis zu ihrem, wie mir schien, unabsehbaren Ende im Fünfminutentakt durchsetzte. Drei blutige Bissen lang vermutete ich, gepeinigte Zuhörerin einer Sendung über paramilitärischen Frühsport in Nordkorea zu sein, um aber nach drei weiteren Bissen zu begreifen, dass ich hier nicht als passive Frühstückshörerin angesprochen war, sondern dass mir gerade praktische Lebenshilfe angeboten wurde, verbunden mit dem dringlichen Appell zur sofortigen Nachahmung: TSCHAKKA!

Im Jahr 97 waren die Dinge offensichtlich noch einfacher. Heute mühte ich mich über Wochen durch Sloterdijks Essay Du musst dein Leben ändern, damals schrie man einfach TSCHAKKA und hatte das Leben auf seiner Seite. Vielleicht war es ein Fehler, dass ich diese Schreitechnik zur Selbstermunterung in den zurückliegenden Jahren nie erprobt hatte, aber glücklicherweise schien ich sie zumindest als erinnerungswürdig eingestuft zu haben. Ein wenig überraschend nur, dass ausgerechnet mit dem August 2013, dem fünften Monat im Projektverlauf von Kunst fürs Dorf – Dörfer für Kunst, der Zeitpunkt gekommen war, jede Scham abzulegen und im Rahmen des persönlichen Überlebensertüchtigungsprogrammes vor keinem Mittel zur Selbstbestärkung zurückzuweichen. TSCHAKKA!

Möglich, dass die morgendlichen Kranichschreie den Flashback auslösten.

Mich selbst im Spiegel anzuschreien wie es damals im Radio empfohlen wurde, empfand ich allerdings als genauso unsinnig wie 1997. Also wandelte ich die Technik ab: Ich begnügte mich jetzt im Ablauf des morgendlichen In-den-Tag-Tretens nicht mehr damit, die Restträume aus meiner Bettdecke zu schütteln und der Nacht mit der Häkeldecke aus Rothenklempenow ein freundliches Tagesantlitz zu verpassen. Seit einigen Tagen warf ich jeden Morgen mein Kopfkissen solange in die Luft, bis ich spürte, wie sich die Füllung im Kisseninnern von der nächtlichen Knautscherei erholte. Dann drapierte ich es sorgfältig in eine aufrechte Haltung, baute mich konzentriert vor der Bettkante auf, fixierte es und setzte zu einem klaren, harten TSCHAKKA-Handkantenschlag an.

Die Tiefe der Falte gab selbst dem weichen Kissen einen Ausdruck von Entschiedenheit. Um sicher zu sein, dass auch wirklich genug TSCHAKKA für den bevorstehenden Tag vorhanden war, wiederholte ich den Vorgang auf der linken Bettseite. Nach nur sieben Tagen stellte ich bereits eine deutliche Verbesserung meines Befindens in punkto Kampfgeist, TSCHAKKA!, Durchhaltewille, TSCHAKKA!, und Abwehrkraft, TSCHAKKA!, fest. Auch die Seelenpflänzchen Enthusiasmus und Optimismus schienen neue Blüten zu treiben.

Der TSCHAKKA-Schlag war aber nur die Tagesvariante meines Selbstbestärkungsprogrammes. In der momentanen Situation war ein 24Stunden-Rundumschutz angebracht. Lag ich im Bett auf meinen TSCHAKKA-Kissen, blickte ich auf ein kleines Bild mit einem Engel. Herr Otto aus Eggesin hatte es mir zu Beginn meines Aufenthaltes übergeben. Einen Engel, meinte er, werde ich wohl brauchen können während meiner Zeit vor Ort. Wochenlang hatte ich den Engel vernachlässigt. Jetzt war ich sehr froh, dass er seine Wolke nicht verschoben hatte und dabei versehentlich von der Wand gefallen war. So führte ich jetzt nächtliche Dialoge mit dem Engel, wie früher, als es noch einen lieben Gott gab, zuständig für Ängste, Heilung und Wunder. Mein Engel hatte das himmlische Ressort übernommen. Vor drei Tagen bat ich ihn, er möge dafür sorgen, dass alle testosterongesteuerten Männer im Dorf des Morgens mit erhöhtem Östrogenspiegel und einem Aquarellmalkasten in der Hand aufwachten.

Daran arbeitete meine Engel jetzt - es hatte keine Eile, ich konnte warten.

Vor kurzem schrieb mir eine Bekannte eine Email, in der sie in nachdenklichem Worten über mein Leben im Dorf sinnierte. Aber vielleicht, formulierte sie, ist ja auch eine Entschleunigung wohltuend, die der aufgeregte Berliner Alltag nicht zulässt.
Berlin, entgegnete ich ihr im Geiste, ist eine einzige Chillout-Zone im Vergleich zu meinem Pommerschen Dorf. Vielleicht würde ich auf dem nächsten Treffen der Kunstgemeinde vorschlagen, die berühmten Zeilen ‚If you can make it there, you make it anywhere’ aus dem Song New York New York in die noch zu schreibende Hymne von Pampsee aufzunehmen. Natürlich auf platt.